Marburg. Eine Lutherische Pfarrkirche, eine muslimische Preisträgerin, eine katholische Laudatorin, dazu starke Worte für Freiheit und Menschenrechte, für die Geltung von Recht vor Religion, kombiniert mit der „Ode an die Freude“, gemeinsam gesungen als Bekenntnis zu Europa aus hunderten Kehlen – das sind die Zutaten der Festveranstaltung zum Preis „Das unerschrockene Wort 2019“ am Samstag in Marburg. Dort hat die Berliner Anwältin, Frauenrechtlerin und Moscheegründerin Seyran Ateş (56) die Auszeichnung des Bunds der 16 Lutherstädte Deutschlands erhalten. „Mit Ihnen würdigen wir heute eine Frau, für die unsere Auszeichnung der Lutherstädte wie gemacht scheint“, eröffnete Marburgs Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die feierliche Preisverleihung an Seyran Ateş in der Lutherischen Pfarrkirche St. Marien. „Sie setzen sich im besten Sinne des Wortes für Freiheit ein: für das Recht von Frauen, für das Recht von Homosexuellen, für das Recht von Kindern und Schutzbedürftigen. Für das Recht von allen Menschen auf ein Leben unter eigener Regie, nach freiem Willen und mit freier Entscheidung. Für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und für das Recht auf eine Religiosität nach genau diesen Grundsätzen: ohne Gewalt, selbstbestimmt, offen für alle Menschen. Und allem voran: für die Geltung des Grundgesetzes, der universellen Menschenrechte, für die Trennung von Staat und Kirche, für Religionsfreiheit, für die Geltung von Recht vor Religion“, so OB Spies über das preiswürdige Wirken von Ateş. Der Preis „Das unerschrockene Wort“ ist mit 10.000 Euro dotiert. Die Veranstaltung mit Vertreter*innen der Lutherstädte aus ganz Deutschland sowie Gästen aus Politik und Verwaltung, Religionsgemeinschaften, Vereinen und weiteren ehrenamtlich Engagierten, Ehrenbürger*innen und interessiertem Publikum aus Marburg und dem Landkreis fand unter strengen Sicherheitsvorkehrungen statt: Taschenkontrollen am Kirchenportal, ein freigeräumter Platz davor – Seyran Ateş wird für ihr Engagement mit dem Tode bedroht, sie lebt rund um die Uhr unter Polizeischutz. Denn: „Der Einsatz für Freiheit und Demokratie ist auch in einem Land wie Deutschland leider nicht einfach und keine Selbstverständlichkeit.
Vielen Dank an Deutschland, speziell Berlin und das LKA Berlin, dass sie meine körperliche Unversehrtheit und mein Leben täglich schützen, während ich nicht müde werde, mich für die Gleichberechtigung der Geschlechter, für die Rechte der LGBTQI* Community und einen säkular-liberalen, reformierten, zeitgemäßen Islam einsetze und praktiziere“, sagte die Preisträgerin selbst. Sie dankte auch den Marburger Sicherheitskräften und allen, „die mich vor Extremisten, Islamisten, Faschisten schützen, die mich am liebsten tot sehen würden“. Unter großem Beifall und stehenden Ovationen des Publikums einer bewegenden Feierstunde in der vollbesetzten Marburger Kirche nahm sie die Ehrungsurkunde der Lutherstädte aus den Händen von OB Spies entgegen. „Mit großer Freude und Demut nehme ich stellvertretend diesen Preis entgegen, wohlwissend, dass ich nur ein winzig kleiner Teil einer großen Bewegung bin, die in den nächsten Jahrzehnten die gesamte Welt zum Positiven verändern wird. Davon bin ich zutiefst überzeugt“, betonte Seyran Ateş. Man könne sie als die Friedensbewegung der Religionen, einschließlich der Weltanschauungsideologien, bezeichnen. Sie sei der Überzeugung, „dass wir den vielbeschworenen und heiß ersehnten Weltfrieden nur erlangen werden, wenn wir es schaffen, Frieden zwischen den Religionen, einschließlich der Weltanschauungsideologien herzustellen“. Eindringlich spricht Seyran Ateş über die Freiheit – was sie ist, was sie für uns bedeutet. Anhand der drei Marburger Stadtschriften, die sie als Gastgeschenk im Hotel vorfand, führt sie aus, was Freiheit meint – von den berühmten Aussagen Hannah Arendts (aus: „Frauen in der Marburger Stadtgeschichte“) über Martin Luther („Die von Marpurg“) bis zu Oswalt Kolle („68’er Stichworte Marburg A-Z“). Sie selbst hat auch Kolle, eine der „Gallionsfiguren der sexuellen Revolution in Deutschland“ ein Kapitel in einem ihrer eigenen und wichtigsten Bücher „(Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“) gewidmet. „Ich sehe in dem Thema der selbstbestimmten Sexualität die größte Kluft zwischen der sogenannten islamischen und sogenannten westlichen Welt“, betonte Ateş in Marburg. „Sie schrecken vor Widerspruch nicht zurück“, würdigte OB Spies die Preisträgerin, damit passe sie ganz ausgezeichnet zu Marburg und zum „Unerschrockenen Wort“. Der Preis wird zum ersten Mal in der Universitätsstadt verliehen. Marburg sei die Stadt, in die jüdische Gemeinde auch Muslime und Christen einlädt, am heiligen Akt der Vollendung einer neuen Thora-Rolle mitzuschreiben, und Marburg ist eine Stadt, in der wir das für ganz normal halten. Marburg ist die Stadt, in der sich mehr als ein Zehntel der Bevölkerung zur „Wir sind mehr“-Demonstration gegen Rassismus, gegen Intoleranz, für die Freiheit und das Gewaltmonopol des Staates einfindet. Sie, Frau Ateş, sind die würdige Preisträgerin für diese Premiere in Marburg.“ Die Laudatio an die Preisträgerin Seyran Ateş sprach die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gesine Schwan. Wunderbar ermutigend finde sie, so Schwan, „dass Seyran Ateş von der Offenheit der Menschen ausgeht. Ihre Moschee ist offen, sie glaubt an transkulturelle ‚Mehrsprachigkeit‘, auch zwischen den Religionen und Konfessionen. Die brauchen wir unbedingt, wenn unsere Gesellschaften nicht in Zuschreibungen erstarren sollen“, schlug die Laudatorin den Bogen von der Preisverleihung in der Marburger Kirche zu den großen Herausforderungen für die Zukunft des Zusammenlebens in Deutschland und der Welt. Die Festveranstaltung in Marburg atmete den Geist von Freiheit, Demokratie und Zuversicht, von Dialog und Verständigung auch zwischen Religionen und Weltanschauungen – selbst im musikalischen Begleitprogramm. So sang die persisch-deutsche Altistin und künstlerische Leiterin des interreligiösen Avram Ensembles, Schirin Partowi aus Bonn, zunächst ein aramäisches Vaterunser, dann ein mystisches türkisches Lied und schließlich die „Ode an die Freude“. Das Stück mit den Worten Friedrich Schillers nach der Melodie Ludwig van Beethovens, die Hymne Europas, hatte sich Seyran Ateş für die Preisverleihung gewünscht. Es war ein bewegender Moment, als das Publikum in der Kirche, begleitet von Uwe Maibaum an der großen Orgel, in den Gesang miteinstimmte. 2021 kehrt die Preisverleihung „Das unerschrockene Wort“ nach Worms zurück. Das berichtete Hans-Joachim Kosubek, Bürgermeister von Worms – jener Stadt, in der die Preisverleihung 1996 zum ersten Mal stattfand. „Diese Auszeichnung ist aus der Überlegung entstanden, dass die Widerrufsverweigerung Luthers auf dem Wormser Reichstag 1521 ein zentraler Impuls für die Entwicklung in Richtung Gewissensfreiheit und Menschenrechte war“, erklärt Kosubek. 2021 jährt sich dieses historische Ereignis zum 500. Mal. „Dies werden wir in Worms 2021 in einer großen Ausstellung aufzeigen.“ Foto: Georg Kronenberg